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60 / Süddeutsche Zeitung Nr.- 243
Wenn man den berühmten
Ausspruch Picassos Ich suche nicht, ich finde!" vom gestalterischen
Schöpfungsprozess loslöst, dann lässt sich dieser prägnante
Satz höchst ergiebig auf die so ganz gegensätzliche Arbeitsmethode
des BilderFinders und Spuren-Sicherers Hermann Kleinknecht anwenden. Kleinknecht
hat ein bildhauerisches Werk von streng stereometrischer Präzision
geschaffen, das sich im öffentlichen Raum auf besonders glückliche
Weise bewährt hat, doch daneben hat er ein Arsenal gefundener Bilder,
gesichteter Besonderheiten und aufgespürter Formen angelegt, das
in seiner Mannigfaltigkeit und Ausdruckskraft die unterschiedlichsten
Emotionen zu wecken vermag. Kleinknecht - er ist in München aufgewachsen
und hat an der hiesigen Kunstakademie studiert - geht nicht bewusst auf
Suche nach verlorenen fremden Formen, die ihrer Wiederentdeckung und Würdigung
harren, es unterläuft ihm vielmehr, dass er fündig wird, dass
ihm da, wo andere nichts wahrnehmen, etwas ins Auge sticht, dass er beiläufig
auf Dinge stößt, die, sobald sie aus der Versenkung geholt
werden, zu reden beginnen, ja, zum Bild oder zum Exponat erhöht,
an den Wänden eines Ausstellungsraums eine höchst eigenwillige
poetisch erzählerische Kraft entwickeln.
Das können eigene,
ohne bildnerische Absicht getätigte Minox-Schnappschüsse aus
der Studentenzeit sein, die, Jahrzehnte später herausvergrößert
und in einen Zusammenhang gebracht, plötzlich eine vibrierende Lebendigkeit
bekommen - wie die in einer Kneipe aufgenommenen Spontanbildnisse des
wenig später gestorbenen) Münchner Schriftstellers Florian List.
Meist entstammen die Fundstücke aber absonderlichen Örtlichkeiten
und dem puren Zufall. Der vollgekritzelte Spiralblock einer tagebuchführenden
amerikanischen Touristin: etwa, dessen Seiten auf einer Bildtafel vereint
sind, hing ehemals in einer Hecke; die ausgebleichten Farbdias eines Pärchens,
das sich in den sechziger Jahren vor einer Plakatwand abgelichtet und
sonst offenbar nur Blumensträuße geknipst hat, lagen neben
einer Mülltonne auf dem Boden. In eine graphisch-rhythmische Ordnung
gebracht, laden die von ihren Schöpfern abgestoßenen Personaldokumente
auf irritierend individuelle Weise zum Geheimnis ergründen und Nachdenken
ein. Gefundene billige Fotokopien von Blitzlichtaufnahmen aufdringlich
posierender Nachtlokalschönheiten einer vergangenen Zeit hat Kleinknecht
auf Lebensgröße zurückvergrößert und an der
langen Außenwand zu einer Art erotischem Totentanz vereint, der
freilich eher Mitleid mit den fleischlichen Schauobjekten und ihren erotisch
gemeinten gymnastischen Übungen als Lustgefühle erregt. In einem
Video ist die Pirsch mit Taschenlampe durch das Chaos eines aufgegebenen
Berliner Kellers zu einem Kühlschrank nachgestellt, in dem neben
halbleeren Flaschen ein altes Hitler-Porträt vor sich hin schimmelt:
In der Ausstellung ist das ramponierte archäologische Fundstück
in einem schemelartigen Kasten sicherheitsverwahrt.
Wo Kleinknecht hinblickt, sieht er etwas, was wir nicht sehen. Er hat
alte Berliner Ziegelsteine oder malträtierte Hauswände im Detail
fotografiert und auf den digital riesig vergrößerten Nachdrucken
fremdartige Lebenswelten sichtbar gemacht oder nacharbeitend herausgeschält.
Auf einem unruhig gemusterten Stück Linoleum entdeckt er verborgene
menschliche Köpfe, die er mit graphischen Nachhilfen ans Licht holt.
Auch die handgedruckte alte Früchte-Tapete in dem Haus an der Loire,
das er eine Zeitlang bewohnt hat, fordert ihn zu Ergänzungen auf,
zu humanen Figurationen, die aus dem Grund zu wachsen scheinen.
In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe großer Tableaus
entstanden, auf deren rauhem Grund sich skizzenhaft angedeutete Charakterköpfe
in wechselnder Dichte drängen; viele der Umrissfiguren scheint man
zu kennen, andere scheinen sich eben aus der Kenntlichkeit wegzustehlen.
Auch da lässt sich Kleinknecht von dem, was er in der Materie gesichtet
hat, zu Gesichtern, ja buchstäblich zu gezeichneten Gesichtern verleiten.
Diesem Prinzip des abwartenden Beobachtens und Herausdestillierens sind
auch alle Porträtfilme, die Kleinknecht in den vergangenen Jahren
gemacht hat, sowie die faszinierende Videoschau mit geteiltem Bildschirm
verpflichtet: Über deren Bildsegmente laufen Spontanstatements von
Ausstellungsbesuchern - zum Kunstbetrieb ab; sie verdichten sich zu einem
recht ironischen Meinungsteppich.
Von diesen fein pointierten medialen und bildnerischen Fundstücken
aus bekommen auch die geometrisch abstrakten Bronzeskulpturen, die alles
Reale weit hinter sich zu lassen scheinen - etwa die extrem gelängten,
nadelspitzen Kegel - , eine neue Deutung. Auch sie sind ja keine Formschöpfungen
der üblichen Art, keine gekneteten, gemeißelten oder behauenen
Bildhauerstücke,sondern Formen, die aus dem bestehenden Kanon der
klassischen Stereometrien ausgewählt und dann in eine gültig
schöne Form gebracht wurden. Wie kaum ein anderer macht Kleinknecht
als Kreator also Dinge sichtbar, die theoretisch auch ohne ihn existieren
könnten, aber ohne seine Phantasie und sein Zutun keine Chance hätten,
jemals beachtet zu werden. In der Rathausgalerie nehmen diese ins Licht
gehobenen Objekte die Besucher buchstäblich gefangen.
(Bis 29. November)
GOTTFRIED KNAPP