Saturn in Aktion - Ein alchimistisches Experiment der Gruppe Z

In der Nähe einer backsteinernen Friedhofsmauer vollzieht sich im Keller des Münchner Anwesens Adalbertstrasse 102 in dieser Woche allabendlich ein unerhörtes Ritual. Vor den Augen eines stummen, gebannten, fröstelnden Pulikums wird ein alchimistisches Experiment vorgeführt, als dessen Ende sich Im Schosse schwarzer Geister als Geburt den unheilbringen Saturn ein lebendiges, menschenähnliches Wesen zeigen soll. Am Montag aber gelang der Versuch. Im vierfach gestaffelten Gewölbe ist das Labor eingerichtet. Mit Kesseln, Ballons, Phiolen, Waagen, Thermometern, Kochern, Pipetten, Pumpen, vielen Schläuchen, Zangen und Mörsern. Im dämmrigen Schein der Petroleumlampen, im flackernden Licht der Brenner und der wabernden Dämpfe aus kochenden Vitriolen arbeiten nach ritualen Gesetzen schweigend zwei Alchimisten In mittelalterlicher Tracht. Am Tisch sitzt ein dritter mit langen wallenden Haaren. Er studiert In den Büchern. Gelegentlich gibt er Anweisungen oder erechnet eine magische Formel. Ganz vorn hockt eine schwarz vermummte Gestalt. Ein Scherge, wie sich später herausstellt, vielleicht auch das Ergebnis eines vorangegangenen Experiments. Nach dem Glauben der magischen Chemiker alles Stoffliche halte in sich das Pneuma verborgen, mit dem man Unbelebtes beleben könne, destillieren sie flüssige Elemente zu gasförmigen, leiten sie allerlei Lösungen durch Schläuche in neue Apparaturen: Denn alles Leben wird vom Flüssigen getragen. Schließlich gelingt es. Die Elemente vereinigen sich. Ein magisches Licht beginnt sich im hintersten Gewölbe auszubreiten. Es wird heiler, und plötzlich zerbirst etwas. Am Boden liegt ein schwarzes amorphes Wesen, beginnt sich zu regen, kriecht nach vorn und an den Wänden empor, unter der Decke entlang. Der Scherge erwacht aus seiner Starre und treibt die verängstigte Kreatur in einen Käfig. Die Alchimistin beginnen grausame, folterhafte Versuche mit Ihrem Geschöpf anzustellen. Das sprengt endlich die äußere Schale seiner Erscheinung und entpuppt sich als menschenähnliches Wesen. Die magischen Experimente gehen weiter. Das Opfer wird entkleidet und aufs Rad gebunden. Zwei Drähte, mit den Augen des Homunculus verbunden sprühen Feuer. Nach letzten Zuckungen scheint kaum mehr Leben in dem gemarterten Körper zu sein. Die Alchimisten treten zurück und betrachten ihr Werk. Da kommt Leben In die abgestreifte Hülle, sie kriecht auf den Wesen zu und nimmt es wieder in sich auf. Das Licht verlöscht. Wenn es zu dämmern beginnt, steht mitten im Labor hochaufgerichtet und von übermeschlicher Größe eine schwarze Gestalt mit vogelähnlichem Kopf und ausgebreiteten Armen. Zu Ihren Füßen kauert unbeweglich die neue Kreatur. Die Alchimisten sind verschwunden. Der Weise hockt an seinem Tisch, über den Büchern zusammengesunken, Finsterniss breitet sich aus. Dieses alchemistische Experiment, ein lebendes Bild nach mittelalterlichen Bildern, ein Mittelding zwischen Theater und bildender Kunst, fasziniert durch ihre düstere Sringenz und durch den magisch rituellen Ablauf. Ein romantisches Schauerstück ohne ironische Distanz. Ein Kunststück deutsch-innerlicher Stimmungen des 19. Jahrhunderts. Ein Stück einzigartiger Kunst auf einem nicht mehr besiedelten Ruinengrundstück unserer Kultur. Dumpfe Ahnungen und schöne Schauer. Finsternis breitet sich aus. (Da der Keller nur wenige Zuschauer aufnehmen kann, empfiehlt sich vorherige Anmeldung unter der Tel.-Nr. 79.9549. Vorerst soll das Experimentt bis Freitag wiederholt werden.

WOLFGANG LÄNGSFELD, SZ, München, 25.Juni.1972